Meine Novelle „Goldküste“ ist 2015 erschienen und nach wie vor lieferbar (ISBN 9783738646047)

Leseprobe

Ein ödes Kaff,
irgendwo an der
niedersächsischen Nordseeküste,
Mitte der 90er Jahre

Es ist ein alter Streit, ob die Geschichte das Ergebnis planvollen menschlichen Handelns ist oder doch nur die Folge einer Reihe von chaotischen Zufällen. Werden Reiche, Städte, Staaten von mächtigen Herrschern geschaffen oder sind sie das Werk von vielen, von denen jeder seine eigenen Pläne verfolgt? Es gibt sogar Wissenschaftler, die meinen, dass jede mögliche Welt, jeder mögliche Zustand zu jeder Zeit existiert, eingefangen in einer unendlich großen Zahl von Membranen. Alles würde zu jeder Zeit möglich sein, was hier richtig ist, könnte an anderer Stelle falsch sein. Wer in der einen Wirklichkeit ein König ist, kann in einer anderen Wirklichkeit ein Bettler sein.

Wieder andere glauben, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im tropischen Regenwald geeignet ist, auf der anderen Seite der Welt einen Wirbelsturm auszulösen, der die Ernte eines ganzen Landes verdirbt. Dürren können Weltreiche stürzen. Eine Flut kann das Werk eines grausamen Despoten beenden, aber ebenso gut reiche Kulturen zerstören.

Das alles zusammengenommen könnte bedeuten, dass es eine Möwe war, die das Leben auf der Insel Kummer­oog und seiner gut 500 Bewohner, eines Redakteurs einer kleinen Tageszeitung und einer Sekretärin für immer veränderte. Eine Möwe, die an diesem Vormittag über den Fähranleger von Buttsiel flog und vor dem Bürofens­ter von Reedereivorstand Edmund Kuper einen schrillen Schrei ausstieß.

Er konnte Möwen nicht leiden. Sie erinnerten ihn zu sehr an eine bestimmte Sorte Menschen. Wie Möwen waren sie laut, aufdringlich und unersättlich. Beiden, den Leuten und den Vögeln, konnte Kuper nicht aus dem Weg gehen. Es bestand – so schien es ihm wenigstens – sogar eine eigenartige Beziehung zwischen beiden: Die Möwen lauerten den Leuten auf, die allen Warnungen zum Trotz die Reste ihrer Fischbrötchen an sie verfütter­ten. Wurden die Vögel zu gierig und warteten gar nicht, bis man ihnen das Brot hinwarf, sondern rissen es den Leuten im Sturzflug einfach aus der Hand, dann war das Geschrei bei den Leuten groß. Wie oft gab es Ärger wegen Möwenschiss auf Mänteln, Mützen und Köpfen! Unbelehrbar, diese Menschen. Doch was hätte Kuper machen können? Er lebte von den Leuten, die auf die Insel wollten, und von den Insulanern, die aufs Festland wollten. Alles könnte auch schön seine Ordnung haben, wenn die Menschen nur einfach mit dem zufrieden wären, was man ihnen anbot. Aber sie wollten immer mehr – mehr Platz an Bord für Fahrräder, mehr Ruhe bei der Überfahrt, mehr Toiletten, mehr Rabatt für Familien, mehr Plätze auf dem Oberdeck. Mehr, mehr, immer mehr.

Kuper sah vom Schrei der Möwe genervt von seinen Papieren auf und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war voller Wolken, es war fast Herbst. Die Möwe war schon wieder verschwunden, aber in diesem Augenblick teilte ein blendend heller Sonnenstrahl die Wolken wie ein Schwert und tauchte den Fähranleger in goldenes Licht. Die Gebäude der Kummerooger Dampfschiff­fahrtsreederei AG lagen wie eine kleine Welt vor dem Deich: Ein Liegeplatz für die Fähre nach Kummeroog und einer für das Ausflugsschiff, dahinter gab es noch einen Kai mit einem Kran, an dem das Versorgungsschiff anlegte, das den Müll von der Insel zum Festland brachte.

Vor den Liegeplätzen stand das Hauptgebäude der Reederei, ein Haus aus blassrotem Ziegelstein, gebaut in den 50er Jahren, mit weißen Fensterrahmen und Gauben im Dach. Dort konnte man im Untergeschoss Fahrkarten kaufen oder Gepäck aufgeben. In der Etage darüber saßen alle Mitarbeiter der Reederei. Der Platz reichte eigentlich nicht für sie, die Büros waren klein, trotzdem standen immer mindestens zwei Schreibtische darin. Auf den Fluren stapelten sich Kartons, in denen Vordrucke, Prospekte, Aufkleber und anderes Werbematerial lager­ten. Mehr als einmal war es passiert, dass Kartons im Untergeschoss stehengeblieben waren und von einer plötzlich höher aufgelaufenen Springtide durchnässt wurden, die von der betagten Metalleingangstür nicht aufgehalten werden konnte.

Verglichen mit seinen Mitarbeitern hatte Edmund Kuper, Vorstand der Kummerooger Dampfschifffahrtsree­derei, es richtig komfortabel. In seinem langgezogenen Büro stand ein großer, altertümlicher Schreibtisch aus Mahagoni, an dem er in einem recht modernen Drehses­sel saß, während er zuschaute, wie sich die Fähre „Germania“ an den Anleger schob. Noch einmal schrie die Möwe – sicher war es schon wieder eine andere –, als sich die Leute auf dem Schiff an der Reling drängelten. Die Gangway wurde von Land aus an Deck geschoben, und die Männer der Reederei hatten Mühe, die Leute zurückzuhalten, bis alles an seiner Stelle war und sie die Absperrkette zurücklegen konnten. Schon schoben sich die ersten Passagiere auf die Gangway, als könnten sie nicht schnell genug vom Schiff herunterkommen und endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Das Telefon auf Kupers Schreibtisch summte kurz, und er drückte den Knopf der Freisprechanlage.

„Denken Sie an den Termin mit den Herren aus Kummeroog?“, kam die Stimme seiner Sekretärin Erika Halwasser mit Rauschen aus dem Lautsprecher. In diesem Moment sah er die bullige Gestalt des Kummer­ooger Bürgermeisters, der sich auf die Gangway quetsch­te. Kuper zuckte zusammen. „Natürlich“, sagte er zu Frau Halwasser. „Äääh… wissen Sie eigentlich, was die von mir wollen?“, fragte er, bevor sie wieder auflegen konnte.

„Nein“, kam es knapp zurück. „Sie haben den Termin doch selbst mit Herrn Eilts abgemacht.“

Kuper seufzte tief und ließ sich in den Lederbezug des Sessels zurückfallen. Vor ein paar Tagen hatte Karl Eilts ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten. Es sei sehr wichtig, hatte er gesagt, mehr aber nicht. Über die Ankündigung, Eilts werde noch Kurt Becker, den Spre­cher der Kummerooger Vermieter-Vereinigung, und Wilfried Kröning, den Kurdirektor, mitbringen, war Kuper so verblüfft gewesen, dass er gar nicht nachgefragt hatte, was sie von ihm wollten. Keiner dieser Herren war auf einen der anderen gut zu sprechen, noch weniger aber auf ihn, Edmund Kuper, Vorstand der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei AG. Der Bürgermeister war ihm unangenehm, aber jetzt gab es kein Entkommen mehr. Kuper sah aus dem Fenster. Die Wolken hatten sich wieder geschlossen.

Erika Halwasser steckte den Kopf zur Tür herein. „Kaffee in den Konferenzraum?“, fragte sie. Kuper nick­te. „Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn die Herren da sind.“

Frau Halwasser schloss die Tür. Eben hatte sie schon Karl Eilts‘ laute Stimme am Eingang gehört, wo er mit der Auszubildenden scherzte. „Moin“, dröhnte er, als er im nächsten Moment zur Tür hereinkam, hinter ihm, sehr viel stiller, die Herren Becker und Kröning. Eilts‘ Finger umschlossen Frau Halwassers Hand wie ein Schraub­stock, und er machte Anstalten, Kupers Sekretärin an die breite Brust zu drücken. Dem konnte sie sich geschickt entziehen und leicht übertrieben freundlich den säuerlichen Vermieter-Sprecher Becker begrüßen. Kröning reichte ihr schüchtern die Hand, und Erika Halwasser bat die Männer, kurz Platz zu nehmen. Herr Kuper werde gleich Zeit für sie haben. Sie deutete auf ein paar Stühle an der Wand und verschanzte sich selbst hinter ihrem Schreibtisch, während die drei Männer sich artig hinsetzten.

Die Sekretärin begann, Papier auf dem Tisch zu sortie­ren. Es war besser, die Herren von der Insel noch ein bisschen zappeln zu lassen. Es galt, den richtigen Moment abzupassen. Erika Halwasser hatte darin großes Geschick: Das Problem bestand darin, dass sie zwar sehen konnte, wie der Besuch vor ihr immer ungeduldi­ger wurde, nicht aber, wie ihr Chef in seinem Büro in wachsender Nervosität an seinen Fingerringen schraubte. Eilts machte ein paar Bemerkungen über die Fahrt mit der „Germania“, und Frau Halwasser beobachtete, wie er dabei unruhig seine blaue Prinz-Heinrich-Mütze zwischen den Fingern kreisen ließ. Als Becker einen Werbe-Kugelschreiber zerbrach, fand sie, es sei genug. „Herr Kuper lässt jetzt bitten“, sagte sie geziert und stand auf.

Der Konferenzraum lag hinter Kupers Büro. Der Chef hatte von dort Zugang und so klopfte Erika Halwasser nur kurz an seine Tür, um ihm ein Zeichen zu geben. Dann schob sie die drei Insulaner in den großen Raum, in dem ein langer Eichentisch stand, umringt von Stühlen mit altmodischen Sitzpolstern in schmuddeligem Grün. Auf dem Tisch standen schon Kaffeetassen. Während sie in der kleinen Teeküche nebenan den Kaffee in Warmhal­tekannen füllte, hörte sie, wie Kuper seinen Besuch begrüßte. Durch den Türspalt sah sie, wie der hünenhafte Bürgermeister ihrem Chef ehrfürchtig die Hand reichte, die blaue Mütze in der Linken hinter dem Rücken haltend. Die beiden anderen Herren sahen aus, als würden sie vor Kuper gleich einen Knicks machen, obwohl Becker wirkte, als würde er dem Reedereivorstand lieber ins Gesicht springen. Die Sekretärin trug den Kaffee ins Zimmer und wollte einschenken. Sie wurde aber von Kuper mit dem Satz „Danke, Frau Halwasser, wir bedienen uns schon selbst“ aus dem Raum gescheucht. Das Letzte, was sie sah, bevor sie die Tür zumachte, war Eilts‘ hochrotes Gesicht und seine klobigen Hände, die sich an die Kaffeetasse klammerten.

Frau Halwasser ging zurück an ihren Schreibtisch und nahm die monatliche Aufstellung der Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten auf Kummeroog zur Hand. Aber sie konnte sich nicht auf die Zahlenreihen konzentrieren. So hatte sie Eilts noch nie erlebt. Gewöhnlich begrüßte der Kummerooger Bürgermeister Kuper, indem er ihm mit seiner Pranke so heftig auf die Schulter klopfte, dass der zierliche Reederei-Vorstand fast in die Knie ging. Karl Eilts hatte sein ganzes Leben auf Kummeroog verbracht. Er besaß eine Pension mit gut gehender Wirtschaft, die nicht nur von Urlaubern, sondern auch von den Kummer­oogern häufig besucht wurde. Als Wirt war Eilts bei allen beliebt und hatte es deshalb geschafft, zum Bürgermeister gewählt zu werden, ohne jede sonstige Qualifikation für dieses Amt. Seinen auswärtigen Gästen stellte er sich gerne als alter Seebär und Fischer dar, obwohl er wie viele andere Kummerooger auch niemals andere Schiffs­planken unter den Füßen gehabt hatte, als die der Fähr­schiffe zwischen Kummeroog und Buttsiel. Aber einem vierschrötigen Kerl mit Vollbart, blauer Mütze, groben Händen, wollenem Seemannspullover und einem golde­nen Ohrring kauften Urlauber diese Illusion gerne ab und lauschten entzückt seinen Geschichten von haushohen Nordseewellen und Begegnungen mit Walen.

„Warum ist er bloß so zahm heute?“, fragte Erika sich. Beim Fest der Reederei zum 100-jährigen Bestehen vor zwei Jahren hatte Eilts ein paar Mal mit ihr getanzt, war ihr dabei ständig auf die Füße getreten und hatte sie dann gar nicht mehr losgelassen, sondern sie an die Sektbar geschleift und ihr eindeutige Angebote gemacht. Erst Peter Schroll, der technische Inspektor, hatte sie befreit. Eilts‘ Verhalten hatte Erika Halwasser nicht besonders erschüttert, aber sie wunderte sich einfach, warum der Bürgermeister heute wie ein Schuljunge vor ihrem Chef stand.

„Und erst dieser Becker“, grübelte sie. Der würde doch lieber einen Teller Granatschalen mit Himbeersoße essen, als Kuper in dessen Haus ehrerbietig die Hand zu schüt­teln. Erika erinnerte sich an all die Briefe, die der Spre­cher der Vermieter geschrieben hatte. In denen hatte er Kuper vorgeworfen, sich in räuberischer Weise an den Kummeroogern zu bereichern, die dem Monopolisten Kuper schutzlos ausgeliefert seien, weil sie selbst und noch viel mehr ihre Feriengäste auf die Fährschiffe und den Bus auf Kummeroog angewiesen waren. Fast immer drohte Becker mit einer Klage, die nie kam, wegen der haltlosen Zustände auf den Fährschiffen, wegen des unverschämten Umgangs der Reederei-Mitarbeiter mit ihm oder seinen Gästen, wegen der Preise, der Abfahrtzeiten und so weiter und so weiter. Erika Halwasser bemühte sich stets, Kuper diese Schreiben in einem geeigneten Moment vorzulegen. Trotzdem bekam er jedes Mal einen Wutanfall.

Weil Becker die Kur- und Gemeindeverwaltung eben­falls mit Schreiben und Eingaben jeder Art bombardierte, war er auch auf Kummeroog nicht sonderlich beliebt. Selbst seine Vermieter-Kollegen waren verunsichert wegen der Art, mit der Becker vorging. Sie trauten sich aber nicht, ihn wieder abzuwählen, um nicht selbst zum Ziel seiner Feindseligkeiten zu werden. Nicht wenige waren außerdem derselben Meinung wie Becker, jeden­falls, was Kuper betraf.

Kröning, der Kurdirektor, war ein lieber Kerl. Er war vor Jahren aus dem Schwarzwald nach Kummeroog gekommen, fand, dass die Nordseeinsel genauso abgele­gen war wie der Bergkurort, in dem er vorher beschäftigt gewesen war, und somit auch ähnliche Probleme hatte, mit denen er schon fertigwerden würde. Er hatte jedoch nicht bedacht, dass man in einem Bergdorf kein Schiff braucht, um dort hinzukommen. Kurz nach seiner Ankunft auf Kummeroog war Kröning eher unbeabsich­tigt mit Kuper aneinandergeraten, als er ihm vorge­schlagen hatte, das Personal auf den Fähren folkloristi­sche Kostüme tragen zu lassen. Kuper hatte das schroff abgelehnt, fühlte sich wohl von dem Auswärtigen auf den Arm genommen. Der Kurdirektor hatte Kuper das nie ganz verziehen. Schließlich hätte solche Kleidung die Gäste doch gleich richtig eingestimmt. Dass so etwas funktionierte, sah man doch an der Pension von Karl Eilts, wenngleich Kröning der Meinung war, dass anzüg­liche Witze und handfeste Flirts mit den Urlauberinnen vielleicht ein bisschen zu viel Folklore waren. Schon oft hatte der Kurdirektor sich Klagen von Gästen über Eilts anhören müssen – von den Frauen über die Zoten, von Ehemännern über die Zudringlichkeit des Wirtes.

Was diese drei Männer jetzt plötzlich von Kuper woll­ten, war Frau Halwasser schleierhaft. Das Telefon klin­gelte und riss sie aus ihrem Grübeln. Als sie aufgelegt hatte, verdrängte sie jeden Gedanken an das mysteriöse Treffen im Konferenzraum, und widmete sich voll und ganz der Aufstellung der monatlichen Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten auf Kummeroog. Eine Aufgabe, auf deren prompter Erledigung Herr Kuper immer großen Wert legte.

Später an diesem Tag kam Edmund Kuper nach Hause. Es dämmerte schon, als er sich im Wohnzimmer in einen Ledersessel fallen ließ und die Krawatte lockerte. Bettina Kuper sah ihren Mann missbilligend an, bevor sie ihm Tee einschenkte. „Gibt es etwas Besonderes?“, fragte sie. Edmund hatte absolut keine Lust, seiner Frau irgendet­was über den seltsamen Besuch zu erzählen, den er drei Stunden lang in seinem Konferenzzimmer hatte. Sie hätte kein Wort verstanden. „Nein, nein, nichts Wichtiges“, sagte er und griff begierig nach der Tasse. Der Tee war lauwarm, schmeckte bitter und hatte den Kandis nicht im mindesten aufgelöst. Kuper, ein nicht sehr großer, schma­ler Mann mit aschblondem Haar, sackte im Sessel zusam­men. Eine heiße Dusche, dann ein weggedöster Abend auf dem Sofa… „Ich habe Frau Ernst zum Kochen geholt, sie soll einen Rinderbraten machen. Herr Brumund isst doch gerne so etwas Deftiges“, sagte Bettina.

Brumund. Er hatte Brumund vergessen. Es war Mitt­woch. Brumund kam heute mit seiner Frau zum Essen. Kuper fühlte, wie die letzte Kraft aus ihm wich. Es muss­te doch nicht sein, dass er nach einem Nachmittag mit drei unausstehlichen Insulanern jetzt noch einen Fuhr­unternehmer und seine übertriebene Herzlichkeit ertragen musste. Er rappelte sich aus dem Sessel hoch. „Ich brauche erstmal eine Dusche“, ließ er seine Frau wissen, die irritiert den Kopf schüttelte, als er sich auf den Weg ins Badezimmer machte.

Während ihm das warme Wasser über Kopf und Schul­tern lief, überlegte Kuper fieberhaft, ob ihn noch etwas vor Brumund retten könnte. Außer einem Herzinfarkt fiel ihm nichts ein, Kuper sah sich selbst in einem Kranken­wagen, der mit Blaulicht zur Klinik donnerte und Brumund neben sich, der ihm aufmunternd die Wange rieb und „Das wird schon wieder, alter Freund“ rief.

Brumund besorgte den Frachtverkehr zum Fähranleger in Buttsiel. Vor ein paar Jahren hatte Kuper ihm lächelnd einen Vertrag aufgedrückt, der Brumund völlig abhängig von der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei und ihn praktisch zu seinem Leibeigenen machte. Seitdem hielt Brumund Kuper für seinen besten Freund. Eigenartiger­weise glaubte Bettina das auch. Die Folge waren ständige Einladungen an die Brumunds, die dann bis in den späten Abend hinein in Kupers Wohnzimmer saßen, während Kuper sich zum Trost im Stillen immer wieder die Daten für den Frachtverkehr aus der letzten Bilanz vorsagte, um nicht den Mut zu verlieren.

Das heiße Wasser aus der Brause schwemmte Brumund aus Edmunds Gedanken. Das Badezimmer mit seinen schwarz-weißen Kacheln und den Armaturen mit den weißen Keramikknöpfen war für ihn schon immer der einzige angenehme Platz im ganzen Haus gewesen. Kuper hatte das Haus von seinem Vater geerbt, einen düsteren Bau aus doppelt gebranntem Klinker aus den 30er Jahren, durch den ständig ein eisiger Hauch zog.

Kuper dachte oft wehmütig an das heitere Jugendstil­haus, das sein Großvater draußen am Sieltief gebaut hatte, ein verspielter Bau mit hohen, luftigen Räumen voller Sonne. Edmunds Vater fand jedoch, dass es für einen Geschäftsmann nicht passend sei und baute den steifen Klinkerbau direkt vor das alte Sieltor, mitten in Buttsiel. In Großvaters Jugendstilhaus war ein Holländer eingezogen, von dem Geld, das er Kupers Vater gezahlt hatte, ließ der die „Germania“ bauen. Nicht die „Germania“, die heute nach Kummeroog fuhr, sondern deren Vorgängerin, die Kuper abwracken ließ, als er Ende der 70er Jahre die Reederei übernahm.

Das Schiff seines Vaters war er losgeworden, nicht aber das zugige Haus. Selbst zwischen den schmucklosen Backsteinhäusern der Fischer in Buttsiel machte es einen strengen Eindruck, und so, wie jeder im Ort vor Kupers Vater den Hut gezogen hatte, betrachteten sie auch das Haus mit Respekt. Kuper hatte immer schon darin gefro­ren, so lange er denken konnte. Einzig im Badezimmer, das erst nach dem Krieg eingebaut worden war und ein ehemaliges Dienstmädchenzimmer ersetzt hatte, fühlte er sich geborgen. Jetzt stand er eingeseift im warmen Brau­seregen und ließ die Gedanken treiben.

Ob Brumund sich wohl noch hin und wieder mit Rosi Lücht traf? Sie war einmal Edmunds Geliebte gewesen, aber er hatte das Mädchen schnell über gehabt und so hatte er sie Brumund quasi geschenkt, indem er Rosi weismachte, dass Brumund ein ebenso wichtiger Geschäftsmann war wie er selbst und sehr großzügig sein würde. Brumund war voller Dankbarkeit gewesen, glaub­te von da an fest an seine Freundschaft zu dem Reederei­vorstand. Später hatte Rosi Edmund wieder Leid getan, aber das Verhältnis der beiden war schnell wieder vorbei gewesen. Edmund vermisste sie nicht, noch nicht einmal ihren anschmiegsamen Körper, der ihm so oft gegeben hatte, was Bettina seit Jahren verweigerte. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte er sich mit seiner Frau noch eine Weile um eine Tochter bemüht, doch hatten sie beide diesen Plan nach einiger Zeit aufgegeben. Edmund war kein Mann mit starken körperlichen Bedürfnissen. Er hatte auch nie das Gefühl gehabt, dass er Rosi glücklich machen könnte. Die üppige Blondine hatte keine Nachfolgerin gehabt, und Edmund war zufrieden mit seiner selbstgewählten Askese. Was er suchte, war eine Befriedigung weit jenseits allen körperlichen Genusses.


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